Herbert Zangs | Aneignung des Realen

Herbert Zangs (1924 – 2003)
Ohne Titel (Pizzatütenbuch), 1976

Pergamintüten mit Illustration und Textaufdruck »Pizza – das italienische Essvergnügen für zu Hause«, 14 Blatt, Drahtbindung, gelbe Schleife, Plomben, Krampen, Ringe, ausgedrückte Tube, Streichholzschachtel und Filz, 55 x 32 cm, rückseitig signiert »Zangs«

Provenienz
Privatsammlung, Deutschland

Ausstellung
documenta 6, 1977

Literatur
Rolf Dittmar, Metamorphosen des Buches, in: documenta 6, Bd. 3, Kassel 1977, Seite 298 sowie Seite 354

 

Das »Pizzatütenbuch« von Herbert Zangs ist Teil einer Privatsammlung, aus der wir zurzeit weitere Werke des Künstlers in unserem Viewing Room zeigen.
Kontaktieren Sie uns für weiterführende Informationen unter info@artvocatum.com oder +49 (0)40 609 46 35-80.

 

Herbert Zangs nimmt in der abstrakten Kunst nach 1945 eine bedeutende und eigenständige Position ein. Sein Werk ist von einer Experimentierfreude, für die es in der deutschen Nachkriegsavantgarde nur wenige Parallelen gibt. Zangs sucht nach bisher noch nicht erprobten und unverbrauchten Ausdrucksmöglichkeiten, um sich der Realität zu vergewissern. Die Anti-Bücher von Herbert Zangs wurden als Konventionsbruch und Protesthandlung bezeichnet. Ganz im Sinne von Neo-Dada manifestiert sich in dem Pizzatütenbuch, das 1977 auf der documenta 6 ausgestellt war, Zangs ambivalenter, ironischer und zuweilen humorvoller Umgang mit Dingen aus der realen Welt.

 

„Pizza – das italienische Essvergnügen für zu Hause…“ ist die einzige Information mit Schriftcharakter dieses Werks, das Herbert Zangs dennoch als Buch bezeichnet. Die Kombination der Pizzatüten mit weiteren Materialien, zu denen sich kein inhaltlicher Bezug ableiten lässt, wie einer Vielzahl an Plomben und Krampen, Ringen sowie einer ausgedrückten Tube und einer Streichholzschachtel, macht deutlich, dass dieses Buch nicht gelesen werden kann, ohne das Kunstobjekt in seiner Einheit zu zerstören.

Ein volkstümlicher Musikant in Anzug mit Fliege umwirbt mit einer Abendserenade bei untergehender roter Sonne eine junge Frau, die sich das Schauspiel von einem Balkon herabblickend ansieht. Die Szenerie bebildert eine Pergamintüte, in der Pizza als Take Away für den Weg nach Hause transportiert wird.

In den 1970er Jahren kam es infolge der Wirtschaftsrezession in Deutschland zum Anwerbestopp, der zum eigentlichen Beginn des dauerhaften Aufenthaltes der Gastarbeiter wurde. Viele der Zuwanderer, deren Ziel es zuvor war, mit dem in Deutschland verdienten Arbeitslohn eine bessere Existenz in ihrem Heimatland aufzubauen, holten jetzt ihre Familien nach und begannen sich auf einen längeren Aufenthalt in Deutschland einzurichten. Die Verbindung zur Heimat schwächte sich ab. In gleichem Maß sickerte italienische Alltagskultur in das Leben in den größeren deutschen Städten ein. Der Werbeslogan „Pizza – das italienische Essvergnügen für zu Hause“ in Kombination mit einer Illustration, die auf Klischees italienischer Lebensart beruht, atmet dieses durch unbeholfene Annäherung geprägte Verhältnis der Deutschen zu den Zuwanderern aus Südeuropa, die unverändert als Gäste, aber nicht als Mitbürger galten.

Zangs Pizzatütenbuch vereint als zum Kulturgut sublimiertes Artefakt der Trivalkultur Pop Art-Ästhetik mit dadaistischer Ironie. Es vollzieht eine Kontextverschiebung von Populärkultur zu Hochkultur, jedoch mit irritierenden Brüchen, denn das Alltagsobjekt vermag als Buch und als Kunstwerk nicht recht zu überzeugen. In dadaistischer Manier findet eine vollständige Zweckentfremdung des Gegenstands statt. Man fühlt sich an Marcel Duchamps Ready Mades erinnert, etwa sein Cadeau von 1921, bei dem sich durch das Anbringen von Nägeln auf der Unterseite eines Bügeleisens eine ironische Umformung eines vermeintlich funktionalen Objektes vollzieht.

In den 1970er Jahren entwickelt Herbert Zangs die Werkgruppe der Anti-Bücher. Reale Bücher werden mittels Nägeln und Holzstiften, die durch den Buchkörper gestoßen werden, mittels Schnüren oder auf den Buchschnitt gegossener Farbe drastisch deformiert. Die Form des Buches ist nur noch eine verblasste Erinnerung an ein althergebrachtes Kulturgut.  Zangs Anti-Bücher vermitteln keine Gewissheiten, sondern stellen Fragen an den Betrachter, etwa zur Zukunft der Wissensvermittlung oder zur Flüchtigkeit des Konsums von Informationen.

Auf Einladung des Sammlers und Kurators Rolf Dittmar stellt Zangs 1977 seine Anti-Bücher auf der documenta 6 aus, in deren Fokus ein durch neue Medien befördertes erweitertes Verständnis von Kunst und der Rolle von Kunst in der Gesellschaft stand. Die Macher der documenta 6 widmeten damals neuen künstlerischen Medien wie Videokunst, Photographie, Film und Performance erstmals eigene Sektionen. Die Sektion „Metamorphosen des Buches“ befasste sich mit dem Buch als autonomes Kunstobjekt. Dittmars Auswahl für die documenta 6 war bewusst breit gefächert. Sie enthielt Buchobjekte von Künstler mit unterschiedlicher konzeptioneller und stilistischer Ausrichtung. Neben einer Gruppe von Anti-Büchern von Herbert Zangs wählte Rolf Dittmar Buchobjekte u.a. von Bernard Aubertin, Daniel Buren, Hanne Darboven, Ulrich Erben, Lucio Fontana, Gotthard Graubner, On Kawara, Anselm Kiefer, A.R. Penck, Dieter Roth, Klaus Staeck, Wolf Vostell und Lawrence Weiner für seine Ausstellung auf der documenta 6 aus.

Das Buch als Instrument der Informationsvermittlung und die damit einhergehende Tätigkeit des Künstlers als Illustrator und Gestalter wurden in den späten 1960er und 1970er Jahren kritisch in Frage gestellt. Viele Künstler, die mit Pop Art, Konzeptkunst, Aktionskunst und Fluxus assoziiert werden, begannen in den späten 1960er Jahren mit dem Konzept des Buchs experimentell zu arbeiten.